Beckenbodentraining in der Schwangerschaft
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zuletzt aktualisiert am 22.08.2023 mit wissenschaftlichen Quellen belegt |
Beckenbodentraining in der Schwangerschaft: Interview mit einer Expertin
In der Schwangerschaft wird der Beckenboden der Mutter stark beansprucht. Vor allem nach der Geburt macht sich das in vielen Fällen durch unangenehme Folgen bemerkbar. Wir durften mit Vroni Raab-Kronski (Dipl. Sportwissenschaftlerin, Prä- und Postnataltrainerin sowie zertifizierte Beckenboden-Kursleiterin, Gründerin von mami sports) als zweifache Mama und Expertin über das spannende Thema Beckenbodentraining sprechen. In diesem Interview erfährst du, warum du deinen Beckenboden schon in der Schwangerschaft unterstützen solltest und wie du das am besten machst!
Das Wichtigste in Kürze
Fange am besten schon in der Schwangerschaft mit dem Beckenbodentraining an, um deinen Körper zu unterstützen, während er Höchstleistungen vollbringt.
Es muss nicht immer ein richtiges Training sein: Ob am WC, beim Tragen oder Aufstehen und Hinlegen – es gibt einige Alltagsmomente, in denen du deinen Körper mit einfachen Tricks unterstützen kannst.
Im Idealfall beginnst du mit dem Beckenbodentraining in der Schwangerschaft so früh wie möglich und setzt es auch nach der Geburt fort.
Hilfsmittel (wie Liebeskugeln) sind grundsätzlich nicht notwendig zur Durchführung des Trainings.
Ein trainierter Beckenboden bringt vielzählige Vorteile während der Geburt.
Beckenboden während der Schwangerschaft: Interview mit Vroni Raab-Kronski von Mami Sports
Worauf können schwangere Frauen im Alltag achten, um ihren Beckenboden zu schonen?
Was für eine tolle erste Frage! In den meisten Fällen sorgen sich die Frauen erst nach der Geburt um Ihren Beckenboden, wenn irgendetwas „anders“ ist oder eben nicht mehr so funktioniert, wie vorher. Tatsächlich macht es unglaublich viel Sinn, sich bereits während der Schwangerschaft um den Beckenboden zu kümmern, immerhin befindet er sich in einer Phase der Höchstleistung:
Eine Vielzahl an weichmachenden Hormonen führt dazu, dass die Grundspannung des Beckenbodens reduziert wird, während er (paradoxerweise) das immer schwerer werdende Baby im Bauch halten muss. Aus diesem Grund bemerkt die ein oder andere Schwangere, dass der Beckenboden seinen Alltagsfunktionen nicht mehr zu 100% gerecht werden kann. Inkontinenz während der Schwangerschaft ist keine Seltenheit!
Umso besser wäre es, alle schwangeren Frauen darüber aufzuklären, wie sie Ihren Beckenboden im Alltag „schonen“ können. Denn immer, wenn sich der Druck im Bauchraum erhöht (das passiert meist unbewusst), kann der momentan weiche Beckenboden nicht gegenhalten und schiebt unkontrolliert nach unten.
Ich nenne im Folgenden 4 wichtige, beckenbodenschonende Alltagstipps:
1. NIESEN UND HUSTEN IN AUFRICHTUNG
Verlängere deine Wirbelsäule und drehe dich vor allem während des Niesens und Hustens über die Seite sanft zurück. So aktivierst du die tiefen, stabilisierenden Rumpfmuskeln - allen voran den Beckenboden - und schützt ihn auf diesem Weg vor zu viel Druckeinwirkung.
2. AUFSTEHEN UND HINLEGEN ÜBER DIE SEITE
Stehe über die Seite auf und lege dich auch über die Seite ab! Vermeide auf- und abrollende Bewegungen. Verzichte während deiner gesamten Schwangerschaft auf aufrollende Bauchmuskelübungen (z.B. Crunches).
3. RÜCKENGERECHTES BÜCKEN, HEBEN UND TRAGEN
Um etwas aufzuheben, beuge deine Beine in Schrittstellung und stütze dich dabei gerne
ab. Dein Rücken bleibt aufgerichtet und lang. Beim Anheben versuche auszuatmen und
zeitgleich deinen Beckenboden leicht anzuspannen.
4. KEIN PRESSEN AUF DEM WC
Vermeide „Pressen“ bei den Toilettengängen. Dein Beckenboden ist entspannt und kann dem
Druck der Organe nach unten nicht gegenhalten!
Macht ein Beckenbodentraining während der Schwangerschaft Sinn?
Ich glaube es gibt kaum eine Schwangere, die sich diese Frage noch nicht gestellt hat: Macht es jetzt wirklich Sinn, den Beckenboden zu trainieren, wenn er doch bald „loslassen“ soll? Ist ein gezieltes Training gar kontraproduktiv?
In der Tat kann ein zu hoher Beckenbodentonus bei einer vaginalen Geburt hinderlich sein. Umso wichtiger ist es, an einem qualitativ hochwertigen Beckenbodenkurs teilzunehmen. Denn Beckenbodentraining bedeutet weit mehr, als den beckenabschließenden Muskel anzuspannen. Vielmehr geht es um das Wahrnehmen, das bewusste Aktivieren bzw. Kontrollieren und nicht zuletzt um das bewusste Loslassen des komplexen und versteckten Muskels.
Ziel eines Beckenbodentrainings während der Schwangerschaft ist, dass die Frauen den Beckenboden willentlich an- und entspannen können, denn dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine vaginale Geburt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass die Beckenbodenmuskulatur während der Schwangerschaft hohen Belastungen ausgesetzt ist: Sie ist hormonell detonisiert, muss jedoch das Zusatzgewicht des Babys tragen. Ganz nebenbei sollte sie aber elastisch bleiben, um nach 10 Monaten gebären zu können. Es wäre nicht schlau, den Beckenboden in dieser Phase der Höchstleistung nicht zu unterstützen!
Auch dem lästigen Rückenschmerz und Inkontinenz kann durch einen gut trainierten Beckenboden bereits während der Schwangerschaft entgegengewirkt werden.
Schließlich muss noch erwähnt werden, dass sich die Regeneration nach der Schwangerschaft und Geburt deutlich verkürzt und verbessert, wenn bereits während der Schwangerschaft die Aufmerksamkeit auf die Beckenbodenmuskulatur gerichtet wurde.
Ab wann ist ein Beckenbodentraining in der Schwangerschaft sinnvoll? Wann sollten Frauen damit beginnen und warum?
Je früher desto besser. Erfahrungsgemäß braucht es etwas Zeit, um sich mit der Beckenbodenmuskulatur vertraut zu machen, denn sie ist ganz anders, als die restlichen Muskeln unseres Körpers: Sie liegt sehr tief, sie bewegt keine Gelenke, sie braucht kein Gewicht um trainiert zu werden und mit ihrem Trainingszustand kann man nicht prahlen – sie ist für die Außenwelt unsichtbar.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Trainerin nicht kontrollieren kann, ob der Beckenboden wirklich richtig angesteuert wird. Das heißt, hier ist Wahrnehmung und ein gutes Körpergefühl gefragt, welches sich vor allem durch Üben, Üben und nochmal Üben einstellt.
Und wenn der Beckenboden dafür die besten Voraussetzungen hat, sprich noch wenig hormonell belastet und das Zusatzgewicht des Babys gering ist, fällt es den Frauen natürlich wesentlich leichter, mit dem Training zu beginnen.
Brauchen Frauen beim Beckenbodentraining in der Schwangerschaft Hilfsmittel?
Grundsätzlich braucht es für ein Training des Beckenbodens lediglich die Bereitschaft sich zu spüren, Körperwahrnehmung, Achtsamkeit und Zeit. Die Muskeln des Beckenbodens brauchen weder viel Kraft um trainiert zu werden, noch Zusatzgewichte.
Ein großer Gymnastikball z.B. ist jedoch eine super Möglichkeit, vor allem die tiefen Beckengelenke zu mobilisieren. So kann im aufrechten Sitz ein kleiner „Beckentanz“ geübt werden (das Becken wippt, schaukelt, kippt und richtet sich auf, im dynamischen Wechsel), welcher sich in vielerlei Hinsicht positiv auf den schwangeren Körper auswirkt: Die Beckenbeweglichkeit wird erhöht, fasziales Gewebe im Rücken-/Hüft- und Beckenbereich „bleibt“ elastisch, die schwangerschaftsbedingte Zusatzspannung im unteren Rücken wird reduziert – und ganz nebenbei wird die innersten Beckenbodenschicht automatisch aktiviert.
Liebeskugeln dagegen, stehe ich etwas kritisch gegenüber. Sicherlich ist es für die ein oder andere Frau eine tolle Möglichkeit, durch das „Tragen und Halten“ des zugeführten vaginalen Gewichts, die Beckenbodenmuskeln kennen zu lernen oder wahrzunehmen.
Das Problem ist, dass die Frauen für den Einsatz der Liebeskugeln keine „professionelle, individualisierte“ Einweisung bekommen, sondern nur eine standardisierte Gebrauchsanweisung. Werden die Kugeln – wie meistens empfohlen – längere Zeit im Alltag getragen, gerät vor allem die äußere Beckenbodenschicht in eine Art „Dauerspannung“, um ein Herausfallen des Gewichts zu verhindern. Diese Überspannung hemmt die gesamte Beckenbodenmuskulatur funktionell zu arbeiten und ist absolut kontraproduktiv.
Somit wird das Tragen von Liebeskugeln in keiner Weise einem guten Beckenbodentraining gerecht. Dieses braucht nämlich weit mehr: Maximalkraft, Kraftausdauer, reflektorisches Aktivieren, Entspannung und vor allem die Einbindung in den Alltag.
Aber ich möchte mich definitiv nicht gegen den Einsatz dieser Hilfsmittel aussprechen. Wie gesagt, es kann eine tolle Möglichkeit sein, den Beckenboden zu finden und wahrzunehmen. Auch wenn sich die Frauen im Vorfeld gut erkundigen und um die Fehlerquellen wissen, spricht nichts gegen das Üben mit Vaginalgewichten. Allerdings kann ich Liebeskugeln nicht pauschal jeder Schwangeren empfehlen.
Haben Frauen, die während der Schwangerschaft ihren Beckenboden trainieren, auch bei der Geburt Vorteile?
Definitiv JA! Ein gut trainierter Beckenboden weist eine hohe Elastizität auf, welche das Risiko für Geburtsverletzungen reduziert. In einem guten Beckenbodentraining wird den Schwangeren beigebracht, wie sie willentlich die Beckenbodenmuskulatur an- und entspannen können. Diese Fähigkeit ist besonders in der ersten Phase der Geburt wichtig, wenn es darum geht, das Becken bewusst zu „öffnen“.
Aber auch, um zwischen den schmerzenden Wehen immer wieder Kräfte zu sammeln, ist es sehr hilfreich die Beckenbodenmuskulatur entspannen zu können. Zusätzlich fördert eine gut trainierte Muskulatur einen zügigen Geburtsverlauf, denn die Mutter hat während der Austreibungsphase mehr Kraft und Ausdauer und die Wahrscheinlichkeit für einen Dammschnitt sinkt.
Aus diesem Grund möchte ich jede Schwangere dazu motivieren, sich körperlich, individuell auf die Geburt vorzubereiten. Schwangere, die ihren Körper kennen und ihre Tiefe achtsam ansteuern können, sehen der Entbindung entspannt und positiv entgegen.
Lohnt sich ein Beckenbodentraining auch nach der Schwangerschaft?
Ein Beckenbodentraining lohnt sich immer, nach einer Geburt mehr denn je.
Eine vaginale Geburt verändert die Anatomie eines Beckenbodens nachhaltig. Kleinere, leider auch größere muskuläre bzw. nervale Verletzungen gehen fast immer mit einer natürlichen Geburt einher.
Spätestens jetzt muss dem Beckenboden Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die natürlichen Rückbildungsprozesse können mit „zusammenziehenden Zauberkräften“ verglichen werden, welche vor allem in den ersten Wochen bis Monaten nach der Geburt genutzt werden sollten. Übungen im Wochenbett, aber auch im Rückbildungskurs wirken besonders festigend und effektiv.
Man kann sich den Beckenboden vorstellen wie eine Weichteilbrücke zwischen Bauch- und Rückenmuskulatur. „Hängt“ diese Brücke durch, weil sie zu wenig Spannung besitzt, findet kaum Kraftübertragung im Rumpf statt: Folge ist ein „Bäuchlein“, das sich schwer bis gar nicht zurückbilden lässt und/oder Schmerzen im unteren Rücken. Auch das Schließen der Rektusdiastase (die Lücke zwischen dem geraden Bauchmuskel) ist ohne Spannung des Beckenbodens kaum möglich.
Findet nun im Mami-Alltag eine Belastung statt, die den Bauchinnendruck erhöht (z.B. Heben des Babys in einer Maxi-Cosi, Husten, Niesen, falsches Aufstehen, Pressen auf Toilette), kann dieser Druck nicht abgefangen werden und wirkt direkt in der Schwachstelle – am Beckenboden. Steuert man hier nicht frühzeitig entgegen, vergrößert sich die Schwachstelle und sie kann irgendwann zu Rückenschmerzen, Inkontinenz oder Organsenkungen führen.
Aufgepasst beim Kaiserschnitt
Auch wenn das Baby per Kaiserschnitt entbunden wurde, heißt dies nicht, dass auf einen Rückbildungskurs verzichtet werden kann. Immerhin musste auch dieser Beckenboden 40 Wochen ein Baby im Bauch tragen und war hormonellen Schwankungen ausgesetzt. Haben Wehen stattgefunden, bevor es zu einem Kaiserschnitt kam, haben auch diese eine senkende Wirkung auf den Beckenboden gehabt.
Es lohnt sich also definitiv, den Beckenboden nach der Schwangerschaft zu trainieren, egal ob auf natürlichen Weg oder per Kaiserschnitt entbunden wurde.
Welchen Tipp möchtest du zum Abschluss als Beckenbodenspezialistin Frauen mitgeben, die sich für das Training interessieren?
Das Training am und mit dem Beckenboden ist kein schweißtreibendes Workout. Es braucht weder Zusatzgewichte, noch hohe Intensitäten oder hohe Wiederholungszahlen der Übungen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Beckenboden nicht sichtbar ist und von der Trainerin auch nicht korrigiert werden kann.
Die Frauen bekommen also keine Rückmeldung von außen, ob sie ihren Beckenboden richtig ansteuern oder nicht. Das hat oft zur Folge, dass sie versuchen, mit viel zu viel Kraft und Druck zu arbeiten, um „da unten“ etwas zu spüren.
Tatsächlich braucht der Beckenboden sehr niedrige Intensitäten, fast schon intuitives Aktivieren, um in seiner Gesamtheit erreicht zu werden. Dies erfordert manchmal einen langen Atem und Zuversicht, diesen versteckten Muskel zu finden.
Mein Tipp: Druck herausnehmen und Zeit lassen! Es muss nicht sofort gelingen, den tiefsten Muskel wahrzunehmen. Aber es lohnt sich definitiv, die Beckenbodenmuskulatur zu finden. Ist sie einmal gefunden und somit „wach“, kann sie weit mehr, als uns „da unten dichthalten“.
In einem intelligenten Muskelverbund sorgt sie zusätzlich für einen Halt der inneren Organe, eine aufrechte Körperhaltung, eine Stabilisation des unteren Rückens und eine stabile Körpermitte.
Vielen Dank für das spannende Interview, liebe Vroni!
Wir erstellen unsere Ratgeberartikel auf der Basis von wissenschaftlichen Quellen. Dennoch möchten wir darauf hinweisen, dass sich die Angaben in keinem Fall als Ersatz für eine professionelle, ärztliche Beratung oder Behandlung eignen. Die Inhalte von miapanda.de können und dürfen daher nicht verwendet werden, um selbst eine Diagnose zu stellen und/oder eine Behandlung zu beginnen.